Sonntag, 19. Mai 2024

Wave Gotik Treffen am Samstag

Am Samstag hatte ich das heidnische Dorf auf dem Plan. Das ist eigentlich nur 500 m weiter vom Agra-Gelände, aber vor lauter Leuten war kaum ein Durchkommen. Als ich dort in die Straße einbog, hatten die Anwohner Tische aufgestellt und verkauften dort Zeug, angefangen bei Getränken bis zu selber gebackenem Kuchen oder auch Second-Hand-Klamotten.

Eine Händlerin verkaufte offensichtlich selbergebastelte Steampunk-Hüte, also billige Faschingszylinder, ein paar Tücher und Fetzen rumgewickelt, etwas verrosteten Schrott drauf geschraubt und dann noch so ein paar Zahnrädchen und Schrauben. Die kenn ich, die gibt's im Bastelshop Idea für 3,99 € das Päckchen (50 Stück drin oder so). Der Hut war aber ganz hübsch, so fragte ich, was er kosten sollte: 160 €! Die Händlerin wollte noch was dazu erklären, aber das wollte ich gar nicht mehr wissen, lachte nur abfällig und ließ sie einfach stehen. Naja, der nächste Depp kauft das ja vielleicht? Ja, und was heißt schon "überteuert"? Man muss ja den riesigen Bastelaufwand dazu rechnen: bei einem Materialpreis von 10 € und einem Stundenlohn von 15 € hat sie ja 10 Stunden dran basteln müssen!

Schon an dieser Stelle sah ich das Ende der Schlange der Leute, die am Eingang anstanden. Das waren ja Hunderte ! Offenbar waren das aber Leute, die alle kein Bändchen hatten - und ich hatte ja eines, also ging ich erst mal vor, um zu gucken, ob ich nicht "so" reinkam. Im Vorbeigehen hörte ich Wortfetzen: "Ob ich's noch aushalt bis drinnen zum Klo?" Tja, blöd, denn vor dem Klo stehen ja auch immer mindestens nochmal 20 Mädels.

Allemal kam ich mit dem Bändchen einfach rein ohne anzustehen.

Ich guckte mir erst mal den Mittelaltermarkt an. Das war schon ein echt uriger Markt, hier schienen nur ausgewählte Händler und Darsteller zu stehen, das hatte schon wirklich Klasse.

Über die Preise dort rede ich aber lieber nicht. Nur eines ist mir noch besonders aufgefallen: Vor einem viktorianisch-steampunkigen Wagen konnte man sich fotografieren lassen und das auf alt getrimmte Papierfoto dann für schlappe 25 € mit nach Hause nehmen .

Da rennt man natürlich nicht schnurstracks durch, schon klar, aber da gibt's so Leute, oft auch Familien mit Kinderwagen und Hund oder ganze Gruppen, und die laufen extrem langsam, also wirklich "spazieren" oder "schlendern" ist dagegen noch ein Wettlauf. Sie schleichen also mit ca. 1,5 km/h im Pulk breit nebeneinander über den ganzen Weg, es ist kein Überholen möglich, denn links kommen einem ja die anderen entgegen. Oft bleiben sie dann auch noch in ganzer Breite stehen und glotzen. Ja, stellt euch halt zum Glotzen dann wenigstens auf die Seite oder hin an den jeweiligen Stand! Das regte mich bald echt auf. Naja, der Markt war halt einfach auch viel zu voll.

Ich war vor allem auch hergekommen, um nun endlich einmal Irdorath zu sehen. Die waren ja schon auf einigen Events angesagt gewesen, konnten aber nicht auftreten, weil zwei ihrer Bandmembers (ich glaub von den Russen? vom Putin? oder irgendwie in der "Kokaine"?) aus politischen Gründen inhaftiert worden waren. Mittlerweile waren sie aber wieder frei gekommen - ganz sicherlich aufgrund der zahlreichen Petitionen und Appelle aus der Szene - und da standen sie nun endlich auf der Bühne.

Irdorath spielten eine Art Folk und man konnte es recht gut hören. Hat mir ganz gut gefallen, ist nun aber nicht "meine Musik".

Das heidnische Dorf mit den Haufen Leuten regte mich bald auf, und genervt schaute ich, dass ich raus kam. Fast gegenüber war ja gleich der Rewe und so kaufte ich ordentlich ein: Salat, frisches Obst, Käse, Wurst, Thunfisch, O-Saft, Wasser, Kaffee und Kaffeemilch.

Ach, so im Naglfar ist es gut auszuhalten. So ganz echt richtig drin wohnen wollte ich jetzt nicht, denn baden oder duschen ist kompliziert und Wäsche waschen geht ja gar nicht. Aber da müsste man dann halt ab und zu einen ordentlichen Campingplatz anfahren, weil dort gibt es ja Waschmaschinen und Trockner. Ihr merkt, ich plane meine rentenbedingte Weltreise!

Der Leichenwagen und sein Kumpel, ein historischer Hanomag, parkten 2 Autos weiter. Die waren auch in der Früh einkaufen gefahren, hatten ihre Motoren angeworfen: was für ein Sound!

Sound, Sound, Sound, denn es stellte sich auch heraus: Im Sarg lag gar keine Leiche, sondern eine Soundanlage! Das ist ein DJ-Pult! Ja, sehr stylisch!

Ich futterte gut und machte mich dann mal auf mit der Straßenbahn zum Felsenkeller. Dort wären Dorsetshire zu sehen gewesen, aber die hatte ich leider verpasst, war zu spät gekommen. Ich sah nur noch den Sänger hinter seinem Merch-Stand sitzen.

Oh mei, ja, das war wieder mein Lieblingsthema: Ich kenn die ganzen Gestalten ja noch vom Ende der 90er Jahre. Ich war schon um die 40, also damals auch schon alt, aber die anderen alle waren auf der Blüte ihrer Jugend und Schönheit. Wie makellos schön waren sie, stolz und edel, eine Augenweide!

Natürlich ging die Zeit auch an ihnen nicht vorbei, und da standen sie nun: Weiber mit einem Arsch, so breit, dass man ein Schifferklavier drin verstecken könnte, fett und aufgedunsen. Korsetts, zugeschnürt bis zum Gehtnichtmehr, aber trotzdem noch vom Umfang einer Öltonne. Die Schnürung klaffte auseinander, die kriegte man schon gar nicht mehr zu, und zwischen den Schnüren sollte man die Fa. Michelin informieren: "Hier könnte Ihre Werbung stehen!"

Witzig find ich dann noch die Männer, die zwei Irokesenkämme auf dem Kopf tragen, weil sich dazwischen halt nun eine Glatze breit gemacht hat. Andere toupieren sich den Haarkranz um die Kahlstelle hoch, kleistern ihn mit Haarlack steif, stopfen in den Hohlraum dazwischen schwarze Watte und kriegen damit doch glatt noch ihr "Vogelnest" hin - auf den Köpfen Vogelnester, um die Hälse schwere Ketten... kaschieren sie die Ruhestätten .

Ja, und ich selber brauch schon gar nix sagen, weil ich bin einfach alt, meine Haut ist welk, ich hab einen Hals wie eine Schildkröte, und sogar die Backen werden nun schon faltig, wie so ein vergessener, verschrumpelter Apfel - mit Puder drüber. Obwohl ich ja peinlich auf mein Gewicht achte und mit meiner Figur - soweit beeinflussbar - sehr zufrieden bin (mein Mieder passt noch!), ist mir aber auch klar, dass das keiner mehr noch wirklich sehen will, und so kam ich mir zuerst fast ein bisschen blöd vor, weil ich eine durchsichtige Bluse trug und drunter nur noch den BH. Dann sah ich aber in der Straßenbahn eine ältere Frau, deren Bluse war noch viel durchsichtiger als meine, aber sie trug gar keinen BH und hatte sich nur die Nippel mit Klebeband abgeklebt. Naja, dann...!

Ein Dom um die 60 stolzierte daher, lederne Militärmütze auf, Nietenband um den Hals, Armeestiefel bis zum Knie. Seinen stylischen Gehstock mit Silberknauf führte er längst aus praktischen Gründen mit sich, denn ohne konnte er wohl nicht mehr laufen, und zu vermuten war, dass er unter der Lackhose Thrombosestrümpfe trug. Fetische verändern sich halt auch mal, ja mei.

Kurzum: Der Begriff "Grufti" steckt in einer echten Identitätskrise.

Es kam zuerst noch die Band "Two Witches", die kannte ich nicht.

Ich ging dann mal rüber nach nebenan in den Supermarkt und kaufte mir dort frisch gepressten O-Saft. Heute wollte ich nämlich mal einen gesunden, alkfreien Tag einlegen.

Danach kamen Umbra et Imago, auch so ein Urgestein von früher. 36 Jahre alt ist die Band, und 1992 hatten sie einen Song aufgenommen, den sie nun spielten... ja, hatte ich schon gehört auf dem Mera Luna 2004, das war doch erst?

Kurz vor Ende verließ ich den Saal. Eine Besucherin war umgekippt, die Sanitäter waren angerückt und untersuchten sie im Foyer. Ich stellte mich an die Haltestelle und wartete auf den Bus 74. Als ich mit der 11er-Straßenbahn in die Agra kam, guckte ich noch in die Disco da unten, vielleicht ein bisschen tanzen? Die Musik war mir aber dann doch zu elektronisch, schade, nur Industrial, das konnte ich ja früher schon von Techno kaum unterscheiden. Ich radelte dann mal nach Hause, war ja eh schon 1:00 Uhr durch.

Ich stellte fest: Nichts hatte ich gekauft, nichts hatte ich gegessen oder getrunken. Ich weiß, so unterstützt man natürlich keine kulturellen Veranstaltungen und trägt zum Szenesterben bei, aber irgendwo hört's halt auch echt mal auf, nä. Bei allem Verständnis für gestiegene Gebühren und Auflagen, aber ich hab doch auch keinen Geldscheißer!

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